Zum Tod von Schwester Verena

Eine große Persönlichkeit ist von uns gegangen: Schwester Verena Birnbacher ist am 23. Juni 2022 in Cochabamba nach kurzer schwerer Krankheit im Alter von 89 Jahren verstorben. Am 25. Juni haben hunderte Menschen von Ayopaya und Cochabamba sie auf den Friedhof von Independencia zur letzten Ruhe begleitet.

Anfänge

Schwester Verena ist als Gertraud Birnbacher am 31. Mai 1933 in Bergen im Chiemgau geboren. Die ersten sechs Jahre ihres Lebens dort haben sie bleibend geprägt. Nach Volksschule und Hauswirtschaftsschule legte sie 1954 ihre Prüfung als Kindergärtnerin und Hortnerin ab; im gleichen Jahr noch trat sie der Caritas – Schwesternschaft Bayern bei und nahm den Schwesternnamen Verena an. Bereits 1958 wurde sie Kursleiterin des sozialpflegerischen Grundlehrgangs. 1961 erhielt sie die Lehrbefähigung in Erziehungskunde. Aus dieser Zeit stammen viele Kontakte, die sie bis zu ihrem Tod gepflegt hat.

1968 ist sie dann mit dem Team um P. Manfred Rauh nach Independencia, der Hauptstadt der Provinz Ayopaya im departamento Cochabamba, ausgereist. Träger der neu begonnenen Arbeit in der Pfarrei San Francisco de Asís war der Missionskreis Ayopaya e.V. in Deutschland.

Diesem Team ging es um eine ganzheitliche Seelsorge für die Menschen im Ort mit damals knapp 1.000 Einwohnern; die Pfarrei umfasst etwa ein Drittel der Provinz Ayopaya. Independencia liegt auf 2.700 m, wobei die Ansiedlungen auf unterschiedlichen Höhen von 1.000 m am Ufer des Rio Ayopaya bis 4.500 m auf den Pässen des Tunari, einer Anden – Kette zwischen Cochabamba und Independencia, liegen. Zu Beginn ihrer Tätigkeit waren die meisten Dörfer nicht mit einem Fahrzeug, sondern nur zu Fuß oder mit Reittieren zu erreichen. Die Verbindung zwischen Cochabamba, der Hauptstadt des departamento, und Independencia war nur mit dem Jeep der Pfarrei möglich; einmal in der Woche verkehrten einige Lastwägen und ein Bus zwischen beiden Orten. Zunächst wohnte die Gruppe im Pfarrhaus, das aus Lehmsteinen gebaut war und große Risse aufwies. Erst 1969 konnte sie in ihre Zimmer im neugebauten Pfarrzentrum, heute Centro Social San Bonifacio, ziehen.

Diese Angaben sind so ausführlich, um in etwa erahnen zu können, unter welchen Bedingungen Schwester Verena ihre Tätigkeit begann und viele Jahre fortführte.

Tätigkeiten

Schwester Verena war im Team die Erzieherin und Hauswirtschafterin. So oblag ihr neben der Versorgung des Teams und der bolivianischen Mitarbeiter*innen der Aufbau eines Kindergartens in den Räumen eines alten Hauses neben der Kirche.

1969 wurde das Bubeninternat Casa San Martín im neuen Pfarrzentrum gegründet.

Leiter der Einrichtung war P. Manfredo. Aber während seiner oft längeren Pastoralbesuche in den weit entfernten Dörfern (rund 60 gehörten zur Pfarrei) war Schwester Verena verantwortlich für die zunächst wenigen Jungen im Internat. Sie stammten aus abgelegenen Dörfern. Mit Hilfe des Internats sollten begabte Kinder von weither die Chance auf höhere Schulbildung erhalten.

Es ist bemerkenswert, dass einige von diesen „internos“ bis zuletzt mit ihr in Kontakt waren.

Mit der Fertigstellung des Kursheimes „Papa Juan XXIII“ 1971 bekam Schwester Verena eine weitere Aufgabe hinzu: Nicht nur Männer sollten als Katechisten oder „promotores rurales“ aus- und fortgebildet werden, auch für Frauen wurden neue Kursformen entwickelt.

Damit wurde schon eine bedeutende Blickrichtung der Arbeit in Independencia eröffnet: die Bildung von Frauen und Mädchen. Konsequenterweise wurde 1974 ein neuer Gebäudetrakt errichtet für ein Mädcheninternat. Was mit einer Handvoll Mädchen begann, wuchs zu einem Internat, das in den letzten 20 Jahren gewöhnlich zwischen 50 und 70 Mädchen von der ersten Klasse bis zum „bachillerato“, vergleichbar unserem Abitur, beherbergt, Heimat und ganzheitliche Erziehung bietet. Auch für die Aufnahme der Mädchen galt die Regel, dass sie aus Orten mit wenigstens 2 Stunden Schulweg stammen.

Schwester Verena war bis zur Übergabe 2016 die Leiterin des Hauses, wobei sie als Vorsitzende des Stipendienkomitees auch für die Förderung der Berufsausbildung und des Studiums der bedürftigen Internatsabgänger*innen sorgte. Auf diese Weise haben bis zum heutigen Tag rund 400 junge Menschen als Schneiderinnen und Konditorinnen, als Lehrer*innen und Erzieherinnen, als Landwirtschaftsingenieure, Ärzte und Krankenschwestern einen Berufsabschluss erlangt und bringen ihren Beitrag in die bolivianische Gesellschaft ein.

Gesamtverantwortung

Vor der wohl größten Herausforderung stand Schwester Verena 1983: P. Manfred Rauh gründete CADECA, das Katechistenzentrum, in Cochabamba. Jetzt arbeitete sie als einzige Deutsche in Independencia weiter. Neben der gesamten Leitung des Centro Social übernahm sie interimsmäßig zwei Jahre lang die Verantwortung für die Pfarrei, bis 1985 den Salesianern die Pfarrei übertragen wurde. Diese zogen in die Räume des 1978 erbauten Kindergartens ein, so dass sich Schwester Verena gezwungen sah, einen neuen Kindergarten und eine „puerta abierta“, ein Haus der offenen Tür für Kinder- und Jugendarbeit, zu errichten. Nicht nur viel Herzblut, viele Überlegungen und Pläne, sondern auch viele private Mittel und von ihr gesammelte Spenden steckte sie in diese Einrichtungen, die bis heute funktionieren.

Die schulische Erziehung

Inzwischen hatte Schwester Verena erreicht, dass die Schulen in Independencia dem Schulverbund „Fe y alegría“ angegliedert wurden. Sie blieb die Koordinatorin und Verbindungsfrau für die Organisation und das Schulzentrum aus zwei Volksschulen und einem colegio (weiterführende Schule) am Ort und einigen Landschulen; zeitweise war sie Distriktsdirektorin für alle Schulen.

Ab 1992 bis 2002 wurden unter ihrer Leitung in 22 Landgemeinden rund 60 Schulräume und einige Lehrerwohnungen errichtet; Jahr für Jahr unterstützte sie Junglehrer*innen, bis diese eine staatliche Stelle bekamen und ermöglichte so den Unterricht für viele benachteiligte Kinder auf dem Land.

Ein Höhepunkt war sicher 1996 die Einweihung der renovierten Schulgebäude in Independencia.

Das colegio wurde ausgebaut und führt seit 2002 bis zum Abitur. Einige Jahre wurde es kommissa­risch von Schwester Verena geleitet und trägt den Namen “Colegio Técnico Humanistico Boliviano Alemán“. Seine Besonderheit sind die sog. technischen Kurse in Holz- und Metallbearbeitung, Maschinenschreiben bzw. Arbeit am PC und Elektrizität. Auf diese Weise führt das Abitur nicht bloß einseitig zu einem Abschluss, der zum Studium an der Universität berechtigt, sondern befähigt auch zu einer handwerklichen Tätigkeit. Diese Möglichkeit ist für viele der Abiturienten die wesentlich realistischere Möglichkeit, sich den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen. Auf eine weitere Besonderheit muss hingewiesen werden: Der Anteil der Abiturientinnen bewegt sich um die 40 %; für ein colegio auf dem Land in Bolivien ist das ein ausgesprochen hoher Prozentsatz, der ohne die gezielte Förderung durch das Centro Social nicht erreicht würde.

Dass heute in Independencia ein großes, gut ausgestattetes Schulzentrum “Fe y alegría” mit Kindergarten, einer Vor- und einer Nachmittagsschule sowie dem “Colegio Técnico Humanistico Boliviano Alemán“ mit 1.200 Schülerinnen und Schülern steht, ist weitgehend dem Einsatz von Schwester Verena zu verdanken.

Sorge für die Gesundheit

Seit 1994 entstanden 12 Gesundheitsposten auf dem Land und das neue Hospital in Independencia. Schwester Verena hatte die finanzielle Unterstützung der Caritas-Gemeinschaft für Pflege- und Sozialberufe in Bayern und des deutschen Verbandes erreicht. So legte sie einen Grundstein für spätere Planstellen des Staates. Das Hospital ist bis heute ein beachtliches medizinisches Zentrum auf dem Land.

Sorge für die Ärmsten

Für Schwester Verena war die Sorge um die Ärmsten in der ohnehin armen Gesellschaft Ayopayas immer wichtig. Sie hat immer wieder Einzelfallhilfe geleistet, etwa nach Unfällen, wenn wie so oft der Ernährer der Familie ums Leben gekommen war und die Familie vor dem Ruin stand. Sie führte „Caritas-Sonntage“ ein: einmal im Monat erhielten alte Menschen ohne Rente oder verlassene Frauen mit ihren Familien eine Unterstützung mit einer kleinen Geldsumme und Lebensmitteln; die Hilfe war abgestuft je nach Bedürftigkeit und wurde jedes Jahr abgesprochen mit den zuständigen Autoritäten der Dörfer, aus denen sie stammten.

Blick für die Zukunft

Das Centro Social, das zeitweise von 120 Kindern belegt war, erforderte ständig Erweiterungen und Renovierungen, denn wegen der Lage des Sozialzentrums an einem Hang entstehen immer wieder Risse an den Gebäuden. 2001 wurden der Speisesaal des für alle Kinder und die Schlafräume des Bubeninternats teils renoviert, teils neu gebaut. 2005 war das Kursheim „Papa Juan XXIII“ und sanitäre Einrichtungen für Buben und Mädchen dran; 2006 wurde der Sportplatz für Fußball und Basketball hergerichtet. 2006 – 08 musste ein Teil des Mädcheninternats „Santa Elisabet“ rekonstruiert werden, und zwar bei laufendem Betrieb. Schwester Verena konnte zwar immer auf die grundlegende Unterstützung durch den Missionskreis Ayopaya zählen; aber sie warb auch bei ihren wenigen Heimaturlauben Geldmittel ein; besondere Beziehungen entstanden zu Schulen in Traunstein und Wangen, aber auch zu Pfarreien und anderen kirchlichen Trägern.

Ein wichtiger Schritt für die Absicherung der Arbeit in der Zukunft war die Errichtung der „Fundación Centro Social San Bonifacio“; alle Einrichtungen in Independencia wurden als Stiftung kirchlichen und öffentlichen Rechts zusammengefasst; der Missionskreis Ayopaya übernahm die finanzielle Absicherung der Stiftung. Schwester Verena wurde „directora administrativa“ der Stiftung.

Bolivianische Mitarbeiter*innen

Für alle genannten Aufgaben hat Schwester Verena natürlich mit vielen einheimischen Personen zusammengearbeitet; die Suche nach geeignetem Personal war häufig schwierig, denn die Landflucht ist groß, und gerade Frauen oder Männer, die sich gute Fähigkeiten im Centro Social angelernt hatten, fanden leicht eine besser bezahlte Arbeit in der Stadt. Aber Schwester Verena war immer mehr als ein Arbeitgeber von zeitweise mehr als 20 Frauen und Männern, sie zeigte sich verbunden mit den Angestellten und stand mit Rat und Tat auch in Familienangelegenheiten den Leuten zur Seite.

Bereits seit 1998 hatte Schwester Verena einige Mädchen zu einer religiösen Gemeinschaft um sich gesammelt mit dem Ziel einer kleinen eigenen Schwesternkongregation: Die „misioneras quechuas“ sind zwar eine kleine Gruppe geblieben. Aber für sie hat sie in unmittelbarer Nachbarschaft zum Centro Social einige Räume gebaut; dort bezog sie 2016 nach der Übergabe der Leitung zwei Zimmer. Sie blieb also in Independencia und führte einige Aufgaben fort, insbesondere die Koordination des Schulzentrums „Fe y Alegría“.

Nachfolge

Angesichts ihres Alters hat Schwester Verena immer wieder Gespräche mit Schwesternkongregationen geführt, dass diese die Verantwortung für die Leitung übernehmen. 2016 konnte endlich ein Vertrag geschlossen werden, der es ihr – damals schon 83 Jahre alt! – ermöglichte, die Leitung des Centro Social abzugeben. Die Fundación Centro Social San Bonifacio schloss mit der Schwesternkongregation Hermanas Franciscanas Misioneras Rurales einen Vertrag, wonach drei bolivianische Schwestern die Leitung des Sozialzentrums übernahmen. Diese haben die Nachfolge von Schwester Verena im Centro Social angetreten.

Freiwillige

Schwester Verena hat von 1996 an jährlich ein bis drei jungen Deutschen die Möglichkeit geboten, ein freiwilliges Jahr im Centro Social zu absolvieren. Damit wurde längst vor dem „weltwärts“ – Programm der Bundesregierung ein Auslandseinsatz für junge Menschen ermöglicht. Trotz des großen Altersunterschiedes – sie hätte ja die Oma der Freiwilligen sein können! – ist es ihr gelungen, zu fast allen ein persönliches Verhältnis aufzubauen, das über eine reine Anleitung zur Arbeit hinausging. Das wurde sehr deutlich bei den Treffen der „ex – voluntarios“, die gewöhnlich anlässlich ihrer Heimatbesuche stattgefunden haben.

Ihr Lebensstil

Hervorzuheben ist der einfache Lebensstil von Schwester Verena. Mehr als 40 Jahre lang hat sie in einem Zimmer in „Casa Santa Elisabet“ mitten unter den Mädchen im Sozialzentrum gewohnt. Bis ins hohe Alter, als sie schließlich wegen ihrer Gesundheit auf besonder Ernährung angewiesen war, hat sie das gleiche Essen wie die Kinder im Internat gegessen. In der Kleidung, im Wohnen und der Einrichtung ihres Zimmers hat sie auf Einfachheit und Nachhaltigkeit Wert gelegt. Übrigens blieb sie stets ihrer bayerischen Heimat stark verbunden; ein kleines Beispiel zum Schmunzeln ist der Landler in Dirndl und Lederhose, den die bolivianischen Schüler*innen des colegio zum 40. Jubiläum der Arbeit des Centro Social mit Schwester Verena einstudiert und aufgeführt haben.

Viele hier in Deutschland erinnern sich gerne an die Gastfreundschaft, mit der sie von Schwester Verena in Independencia begrüßt wurden. Alle Besucher bekamen ein Bett und im „Living“ hat sie mit den einzelnen Gästen oder den Gruppen gerne geteilt, was sie hatte: ein Schlückchen Wein, Tee und ein paar Kekse, und vor allem ihre Lebenserfahrungen.

Ehrungen

Angesichts dieser vielen Verdienste war es nur zu berechtigt, dass das Kultusministerium der bolivianischen Regierung ihr den Orden für Verdienste um das bolivianische Schulwesen zuerkannt hat. 2009 wurde ihr das Bundesverdienstkreuz durch den deutschen Botschafter in Bolivien überreicht. Die Stadt Independencia hat ihr die Urkunde als „hija predilecta“, die Ehrenbürgerwürde, verliehen.

Wahrscheinlich hörte sie es aber viel lieber, wenn die Leute sie auf Quechua zärtlich und zugleich respektvoll „mamitay“ nannten, ihre liebe Mutter.

Ihr Charakteristikum: Treue

Wenn ich mit einem entscheidenden Wort ihr Leben zusammenfassen soll, dann nenne ich das Wort Treue. Ihrer Heimat blieb sie treu, obwohl sie die längste Zeit ihres Lebens 10.000 Kilometer von daheim entfernt war. Ihren Glauben lebte sie treu; sie hat die Eucharistie so oft wie möglich mitgefeiert und viele andere Gebetsformen gepflegt und an die ihr anvertrauten Menschen weitergegeben. Ihrer Aufgabe blieb sie treu: mit großer Beständigkeit und Beharrlichkeit hat sie die ihr übertragenen Arbeiten ausgeführt. Sie hat die Notwendigkeiten der Menschen um sie herum gesehen und mit Zähigkeit nach guten Lösungen gesucht. Freundschaften und Beziehungen hat sie gepflegt; nie stand ihr eigener Vorteil im Blick, sondern sie wusste ihre Kontakte für die Menschen in Ayopaya und Bolivien zu nutzen.

Ein erfülltes, hingebungsvolles Leben ist zu Ende gegangen. Gott hat sie zu sich geholt; er vergelte ihr das viele Gute, das sie für Ayopaya getan hat.

Der Missionskreis verliert einen außergewöhnlichen Menschen und trauert mit den Menschen in Bolivien, mit ihrer Familie und ihren Freunden.

Raimund Busch